Gottes Wort mitten im Leben
Siebeneinhalb Zentimeter ist er groß. Meistens steht er irgendwo zwischen der Wasserrettungsstation auf der Fensterbank und der vom Esstisch zur Sofa-Landschaft verlaufenden Eisenbahnstrecke. Mit seiner Langhaar-Frisur und der mittelalterlichen Kopfbedeckung fällt er auf zwischen den coolen Surfern, dem Rettungsboot mit Unterwassermotor und den Hochgeschwindigkeitszügen. Deren Passagiere tragen schicke Koffer und Mobiltelefone mit sich herum; er hat eine Schreibfeder und ein aufgeschlagenes Buch in den Händen: „Bücher des Alten Testaments. Ende“ steht auf der einen Seite, „Das Neue Testament übersetzt von Doktor Martin Luther“ auf der anderen.
Martin Luther als Playmobil-Figur. Gibt es wirklich. Die Miniaturausgabe des Wittenberger Mönchs wurde als Werbebotschafter für das Reformationsjubiläum 2017 erfunden. Innerhalb von 72 Stunden waren alle 34.000 Exemplare ausverkauft – so schnell wie bei keiner Figur je zuvor. Vielleicht haben Sie es gelesen oder gehört. Gerade ist die zweite Auflage erschienen, noch einmal 50.000 Stück.
Was macht den Martin Luther des bayrischen Spielzeug-Produzenten so populär? Vielleicht unsere Sehnsucht nach realen Identifikationsfiguren. Nach Menschen mit Ecken und Kanten. Und einer Botschaft. Vielleicht auch die Freude darüber, dass jemand, den es vor 500 Jahren wirklich gegeben hat und der damals richtig etwas bewegt hat, plötzlich Teil unserer Lebenswelt wird. Ein Reformator zum Anfassen. Das erlaubt einen spielerischen Umgang mit ihm. Und es ermöglicht – umgekehrt – die Erkenntnis: Mit dem kann man nicht nur spielen; den kann man auch ernst nehmen. Mit dem sollte man sich auseinandersetzen.
Martin Luther war keiner, der immer das richtige gesagt und getan hat. Aber die Botschaft, die er für sich entdeckt hat, kann Menschen bis heute ansprechen: Dass Religion und unser christlicher Glaube mit Freiheit zu tun haben. Gottes Wort sei „kein Lese- sondern ein Lebewort“, hat er einmal gesagt und die Bibel und den Glauben in eine Sprache übersetzt, die die Menschen verstehen. Und deshalb ist er bei den coolen Surfern und den Mobil-Telefonierern genau richtig, finde ich. Mit Gottes Wort in der Hand. Das ist gut aufgehoben zwischen Wasserrettungsstation und Eisenbahnstrecke, Esstisch und Sofa-Landschaft. Mitten im Leben. (Sigrid Goldenstein)